Einführung in Emergenz und emergente Ordnung

Die von Luhmann beschriebenen Vorgänge während jeder Kommunikation basieren darauf, dass jeder Mensch in seinem Denken sehr stark emergent ist.„Emergenz ist (kurz beschrieben, es ist natürlich ein sehr komplexer Begriff): etwas Unvorhersehbares, nicht vorher Bestimmbares. Im Prinzip sind drei Zustände wichtig:

  1. Als Ausgangssituation wird immer ein stabiler Zustand angenommen.
  2. dann erfolgt eine „Irritation“ (das kann ein Stoß sein oder ein ungewöhnlicher Gedanke), und dann ist etwas in Bewegung. Diese nächste Zeit wird dann als „emergente Phase“ bezeichnet, wenn etwas wirklich Unvorsehbares passiert.Wichtig ist, dass diese „emergente Phase“ erst dann abgeschlossen ist, wenn
  3. wieder ein stabiler Zustand erreicht ist.

Es gibt schwache, mittelstarke und starke Emergenz, je nachdem, ob der prinzipiell unvorhersehrbarte emergente Vorgang reduzibel (nachträglich nachvollziehbar) ist oder nur sehr mühsam oder gar überhaupt nicht. Ich nenne mal Beispiele:

Ein Würfel wird (vorher stabil liegend) in Bewegung gesetzt (irritiert) und bleibt dann (anders, aber stabil) liegen. Hier ist die emergente Phase sehr klar – der Würfel rollt unvorhersehbar. Sie ist aber zwar sehr komplex verlaufen, rein theoretisch könnte man dennoch nachvollziehen, warum der Würfel genau dahin gerollt ist, wo er jetzt liegt. Das ist eine mittelstarke Emergenz.

Etwas anders arbeiten „Zufallsgeneratoren“, die Zufallszahlen produzieren (diese müssten eigentlich „Emergenzzahlen heißen, denn Zufälle gibt es verschiedenster Art, mystischer und statistischer und nur drittens emergenter Art. Ein solcher Generator arbeitet aber ganz eindeutig nur emergent).

Zufallszahlengeneratoren haben in der Regel eine mathematische Formel (Algorithmus) als Grundlage, um Zahlen unvorhersehbar zu produzieren. Aber obwohl es Algorithmen gibt, die ungeheuer komplex sein können, ist es doch sehr leicht, die Entstehung dieser Zufallszahl nachzuvollziehen, man muss nur den Algorithmus kennen. Hier ist die Emergenz also eher schwach.

Bleiben wir trotzdem mal bei emergenten Zufallszahlen, um eine sehr starke Emergenz zu beschreiben: Wenn Menschen sich auf eine Zahl einigen oder einfach nur bestimmen, wer im Spiel anfängt, dann geht dem in jedem Menschen sehr viel Gedankliches voraus. Diese emergente Phase ist immer voller emotionaler und rationaler Überlegungen.

Das heißt aber: Immer dann Menschen beteiligt sind, ist ganz sicher nicht nachvollziehbar, was bei Jedem dann zu einer Entscheidung geführt hat, ergo: Wenn Menschen beteiligt sind, ist die Emergenz immer sehr stark.

(Es sei erwähnt, dass Psychologen eher der Meinung sind, dass Menschen determiniert, also im Voraus geprägt sind, und manche meinen sogar, dass jede menschliche Entscheidung nachträglich nachvollziehbar sei. Ich halte das für arrogant, falsch und nie wirklich bewiesen, aber das ist ganz subjektive Ansicht).

Nun wissen (hoffentlich) alle, was Emergenz im Prinzip ist, aber was ist dann eine Emergente Ordnung?

In jeder Gesellschaft gibt es das, was als „Kommunikation“ bezeichnet wird (sonst wäre es ja keine Gesellschaft), und jede Kommunikation ist immer eine Entscheidung zwischen Menschen – diese sind also gemäß obiger Beispielreihe immer als sehr stark emergent zu bezeichnen.

Im Grunde ist jede Kommunikation ein emergenter Vorgang: Immer sind da erst zwei (ganz wichtig, Kommunikation ist immer nur zu zweit!) Menschen in einem stabilen (also erzählbaren) Zustand. Das muss “gefühlt” nicht immer ein positiver Zustand sein, „erzählbar“ und damit „stabil“  kann auch eine sehr negative Situation sein, wenn sie nur erzählbar ist.

Dann erfolgt eine Irritation (das ist ja i.d.R. der einzige Grund, zu kommunizieren), und dann, wenn diese Kommunikation ein erzählbares Ergebnis als Information dem/der Anderen mitgeteilt wird oder auch nur mitgeteilt werden kann, ist zumindest eine/r der Beteiligten in einem anderen stabilen Bewusstseinszustand.

Wenn diese Information dann eine weitere Irritation ist (was ja in der Regel der Fall ist), dann kommuniziert auch der/die Andere und könnte (nach Abschluss der Kommunikation) ein erzählbares Ergebnis mitteilen.

Auch hier gilt: Weder der Anfangszustand noch der Endzustand ist positiver oder negativer – eine Kommunikation kann einen (positiv) stabilen Menschen auch so irritieren, dass er sich (gefühlt)  negativer empfindet. Wichtig ist nur: der Zustand muss erzählbar sein.

Kommunikation ist also eine stark emergente Phase, denn bei jeder Bewusstseinsveränderung kommen viele emotionale und rationale Überlegungen auf und prägen das erzählbare Ergebnis. In einer Gesellschaft gibt es also grundsätzlich immer stark emergente Prozesse, aber die Menschen sind unabhängig davon alle ja doch sehr  unterschiedlich (individuell eben) geprägt.

Jetzt sind wieder zwei Theorien zum Thema interessant, die von Parsons und die von Niklas (siehe Doppelte Kontingenz).

Das “Parsonssche” Extrembeispiel: Eine Gesellschaft, in der sehr starke Traditionen (Werte, Gesetze und Normen) wichtig sind, wird eher Menschen „erziehen“, die erst gar nicht auf die Idee kommen, etwas Anderes zu denken oder zu wollen. Typisch: islamisch geprägte Staaten, aber auch frühe westliche Demokratien. Hier wird nicht Individualität in der Erziehung gefördert, sondern starke Gruppenidentität. Eine andere Gesellschaft könnte zwar individuelles freies Denken durchaus erlauben, aber da könnte es sehr wichtig sein, dass es dann doch allgemein gültige Gesetze ff gibt. Änderungen sind dann zwar denkbar, aber sie müssen „demokratisch“ entstanden sein – das heißt, die Mehrheit entscheidet (auf teilweise komplizierten Wegen), und dann muss sich die Minderheit unterordnen.

Das darf dann die Fortführung der “Parsonschen Gesellschaft” genannt werden – zeitlich ungefähr in den  30er Jahren des 20. Jahrhunderts auftretend, zuerst in den USA, später auch in Europa (der Faschismus nach dieser Zeit könnte als Antwort auf das neu auftretende Chaos dieser Zeit gesehen werden).

Und erst dann, wenn das Gesetz geändert ist, darf auch jede/r Beteiligte (straflos) etwas Anderes tun. Wichtig ist hier also auch, dass ein stabiler Zustand vorher herrscht und dann aber ein anderer stabiler Zustand denkbar ist. Diese Gesellschaftsform heißt dann „demokratische Ordnung“.

Es ist aber auch ein völlig andere Gesellschaftsordnung denkbar, und die gibt es auch schon recht lange (ein paar Jahrzehnte schon vorwiegend in Industriestaaten). Diese bereits existierende Ordnung wird (fälschlicherweise) immer noch als „demokratisch“ bezeichnet, aber sie ist es im Grunde schon lange nicht mehr. In allen „westlichen“ Gesellschaften (besonders aber im Europa) ist seit wenigen Jahrzehnten eine weder traditionell bestimmte noch „demokratisch“ (wie oben beschrieben) zu nennende Ordnung zu sehen, die ganz anders genannt werden kann, nämlich die, die Luhmann als „Emergente Ordnung“ bezeichnet.

Interessant ist, dass eine solche emergente Ordnung früher (vor 1945 und auch später) noch ausdrücklich als angsteinflößend, chaotisch oder gar anarchisch bezeichnet worden wäre, aber heute (2008) ist sie tatsächlich entstanden und hat sich sogar als sehr stabil und sehr lebenswert erwiesen.

Das Prinzip dieser Emergenten Ordnung ist völlig anders, als die soziale Ordnung traditioneller oder demokratischer Gesellschaften:  Eine emergente Ordnung entsteht dadurch, dass Einzelne ganz für sich, völlig „unnormal“ und in freier Selbstverantwortung Entscheidungen treffen, die dann von den Anderen eventuell akzeptiert werden und viel später (demokratisch) dann sogar neuer Wert oder Gesetz werden können.

Hier werden also neue Werte, Gesetze und Normen bereits lange vorher gelebt und akzeptiert, die im Widerspruch zu früher geltenden Normen ff stehen – die allgemein gültige Gesetzgebung folgt dann nur der bereits praktizierten Realität. Es können sehr viele Beispiele genannt werden, die nie gesetzlich geregelt werden mussten, weil sie nur und einfach „Moral“ waren, dann zunächst „unmoralisch“ anders gelebt wurde und später (heute) einfach „normal geworden ist: Dazu gehören Wohngemeinschaften, Uneheliches Zusammensein, Kindererziehungsmethoden ff, um nur wichtige Beispiele zu nennen. Auf sehr vielen Ebenen hat sich in den letzten Jahrzehnten ungeheuer viel verändert, und immer waren es einzelne Individuen, die einfach etwas „Unmoralisches“ getan haben, und was dann sehr bald akzeptiert und „normal“ geworden ist. Und zwar so krass, dass heutige Kinder sich gar nicht mehr vorstellen können, dass das vor wenigen Jahrzehnten noch völlig undenkbar und “unmoralisch” war.

Ob diese neuen Moralnormen richtig oder falsch waren, ist dabei unerheblich – auch wenn sich manche  neuen Werte dann öfters als “falsch” erwiesen haben und korrigiert werden mussten. Es soll hier nur das Prinzip analysiert werden.

Es hat sich also Vieles sehr schnell geändert, und trotzdem ist unsere Gesellschaft immer noch stabil – im Gegenteil sogar sehr viel stabiler, als immer vorher. Ein Krieg mit Nachbarn ist nicht nur in Europa lange nicht mehr geführt worden, sondern ist schon fast unvorstellbar geworden.

Die wahre Ursache ist eigentlich sehr einfach: Wir haben (leider nur fast) Alle erkannt, dass Individualität etwas sehr Schönes und Lebendiges sein kann, und mit Individualität entsteht immer auch Empathie. Und genau diese Empathie verhindert, dass ein unmenschliches Chaos ausbricht – es wird (leider nicht von Allen) empathisch gedacht und gehandelt.

Es geht natürlich auch immer um Veränderungen, die auch “Gesetz” werden müssen, um ein soziale Ordnung zu untermauern, und da ist es sehr interessant, unser Justizsystem in Deutschland mal zu analysieren: Das ist nämlich immer noch sehr „undemokratisch“ – jeder Richter ist im Prinzip völlig frei, eine Entscheidung zu treffen und jeder Richter (außer BVfG und BGH) ist undemokratisch eingestellt und lebenslang nicht kündbar. Das ist eigentlich ein Relikt aus einer sehr autoritär und traditionell geprägten (Vorkriegs)-Zeit, aber heute ist es paradoxerweise das Fundament unserer emergenten Ordnung, die ja trotzdem als sehr stabil empfunden wird.

Wenn ein Richter völlig unabhängig entscheiden kann (ohne auf demokratisch fundierte Änderungen zu warten), und wenn dieser Richter auch „Empathie“ hat, also manchmal auch Mitgefühl mit dem/r Angeklagten, dann kann und wird es passieren, dass er/sie auch mal ein Urteil fällt, das völlig „ungesetzlich“ ist. Das könnte zwar in einer Revision korrigiert werden, aber nachfolgende Richter haben ja auch empathische Fähigkeiten und beschließen dann oft, wie der erste Amtsrichter es tat.

Solche Entscheidungen sind schon lange vor einer Gesetzesänderung (bei BVfG oder BGH) möglich. Auf diese Weise ist (sehr schnell!!) das Eherecht völlig verändert worden, die Homosexualität ist längst nicht mehr bestraft worden, als das Gesetz noch gültig war, viele andere Gesetze sind erstaunlich schnell geändert worden, die aber vorher schon lange „ungesetzlich“ beurteilt worden sind.

Zwar wird im Justizsystem unserer europäischen Gesellschaften immer noch „demokratisch“ Gesetze erlassen (das geschieht dann im Verfassungsgericht oder Bundesgerichtshof, und die dortigen Richter werden demokratisch erwählt), aber fast immer ist schon lange vorher von völlig undemokratisch ernannten Amtsrichtern anders geurteilt worden.

Nachbemerkung zu diesem Teil: Natürlich ist unser Justizsystem nicht so “perfekt”, wie es hier beschrieben wird – das Justizsystem kann auch eben wegen der Entscheidungsfreiheit der Richter sehr ungerecht sein und erlaubt völlige Willkür der Richter – wie es am Beispiel des Hamburger Juristen Schill vor einiger Zeit drastisch sichtbar wurde! dennoch ist nachträglich zu sehen, dass Schill entmachtet wurde – was den vorher ungerecht Verurteilten leider wenig hilft. (Niklas Luhmann, der ja auch Jurisprudenz studiert hat, hat dazu ein interessantes Buch geschrieben, das diesen Vorgang detaillierter, aber leider sehr schlecht lesbar erklärt).

All das ist eine „Emergente Ordnung“, die zwar sehr „unordentlich“ entsteht, aber dann doch sehr stabil ist – stabiler als alle anderen „nur demokratischen“ Gesellschaften (auch hier als Negativbeispiel: viele islamisch geprägten Staaten).

Duale Narration und Emergente Ordnung:

Die Grundthese lautet ja, dass erst “Doppelte Kontingenz” oder (mir lieber) “Duale Narration entsteht, diese basiert wiederum auf Individualität und Empathie, und dass DANN (ganz von selbst mit den richtigen Rahmenbedingungen) eine Emergente Ordnung entsteht.

Um „Doppelte Kontingenz“ (besser eigentlich ja „Duale Narration“) und Emergente Ordnung  noch einmal im Zusammenhang zu verdeutlichen, sei ein Beispiel genannt:

Der Straßenverkehr ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft zwar wirklich allgemein gültige Regeln braucht, diese aber auch geändert werden können. Jeder Autofahrer vor einem drohenden Zusammenstoß (und zwar Beide, ob der, der falsch gefahren ist, oder der, der eigentlich im Recht ist – z.B. Vorfahrt hat) muss natürlich ganz schnell eine Entscheidung treffen.

Hier sind allgemeine Gesetze sehr hilfreich, um Zusammenstöße grundsätzlich im Voraus zu vermeiden (obwohl man wissen sollte, dass es ja inzwischen auch Experimente gibt, wo in Städten völlige Rechtlosigkeit herrscht, also Emergente Ordnung im Reinzustand – ein interessanter Versuch!).

Wenn jedoch der Fahrer, der eigentlich im Recht ist, auch nur ETWAS Zeit hat, wird der/die dann doch empathisch denken und – wenn es irgendwie geht – die Kollision vermeiden. Dieser Vorgang ist ganz eindeutig eine „Doppelte Kontingenz“, die  Kommunikation auslöst. Der/die Fahrer/in wird sich (das passiert ja ganz schnell) in die Situation des/der Anderen versetzen (mit dem „Alter Ego“, also dem fiktiven anderen Fahrer) eine sehr kurze Diskussion im Bewusstsein führen, und sich dann entscheiden, zu bremsen (oder auch nicht). Das passiert natürlich unbemerkt (sehr schnell eben), aber Watzlawik könnte das als eine sehr interessante Geschichte beschreiben – sehr langsam und sehr ausführlich.

Es ist nicht lange her, dass von Richtern im Straßenverkehr eigentlich grundsätzlich nach Gesetzeslage entschieden wurde – Recht bekam, wer laut Gesetz Recht hatte. Aber seit kurzer Zeit wird auch der/die bestraft, der/die einen Unfall hätte dann doch verhindern können, obwohl er/sie eigentlich „im Recht“ war. Dann ist der Vorwurf möglich, dass der Unfall „provoziert“ oder zumindest vermeidbar war, und das wird heute zumindest als Teilschuld gewertet. Dieser Gesetzesänderung waren aber schon viele Fälle vorangegangen, wo Richter „ungesetzlich“ entschieden hatten.

„Doppelte Kontingenz“ und „dualnarratives Denken“ wird also auch im völlig „undemokratischen“ deutschen Justizsystem längst vorausgesetzt. Das Ergebnis heißt auch hier: Emergente Ordnung“