Duale Narration als konstruktive Weiterentwicklung von Doppelter Kontingenz

Treffen zwei Menschen aufeinander (zunächst richtig als „Doppelte Kontingenz” zu bezeichnen), dann entsteht oft oder im wünschenswerten Idealfall das, was als „Kommunikation“ bezeichnet wird.

Wird dieser Vorgang der „Kommunikation“ in einzeln nacheinander abfolgenden Schritten gesehen (dekomponiert) , so können folgende Schritte unterschieden werden – beginnen wir mit dem allerersten Kontakt zweier Menschen:

  1. Voraussetzung: der andere Mensch ist stark oder schwächer unberechenbar.
  2. Deswegen oder auch trotzdem wird der andere Mensch angesprochen. Dieses geschieht in Form einer Information.
    1. bevor diese Information „erzählt“ wird, wird sich jeder Mensch vorher (oft nur sehr kurz) überlegen, was er sagt, in welcher Form usw.
    2. Hilfreich sind jetzt gängige Normen und Werte, die in Form von „Floskeln“ mitgeteilt werden (das würde die These Parsons bestätigen), aber es sind auch unkonventionelle Anreden möglich.
    3. Dazu stellt sich jeder Mensch zunächst in seinem Bewusstsein vorher vor, was dem/der Anderen gefallen könnte oder was ihn/sie stören könnte, er/sie hat also vor dem ersten Kontakt sich den/die Andere/e im „Kopf“ bereits als Gesprächspartner imaginisiert (vorgestellt) und versucht, ihn/sie „abzuschätzen“ oder „berechenbar zu machen“. Luhmann beschreibt diesen Vorgang, er benennt die Aufspaltung in „Ego“ und „Alter Ego“, wobei „Alter Ego“ die fiktive, jedoch tatsächlich ja existierende Person des Anderen ist, nur eben zwangsläufig eingeschränkt, da der/die Erstere ja sein/ihr Gegenüber nicht oder wenig kennt.
    4. Die erste Kontaktaufnahme ist jeden Falls eine Information.

Parsons hat also durchaus recht, wenn er davon ausgeht, dass „Doppelte Kontingenz“ Werte und Normen erfordert, aber eben nur zu Beginn. Schon bald wird – um konstruktive „Verständigung“ auch zwischen verschiedenen Menschen (Individuen) zu erreichen – das Überschreiten gängiger Werte und Normen erforderlich (Das kann z.B.  bereits das unerwartete Anbieten oder Verwenden von „Du“ statt „Sie“ sein).

Bleiben wir bei der Begegnung zweier Menschen wie oben begonnen, und überspringen wir mal die Anfangsphase, in der jeder auf der normenorientierten „Floskelebene“ bleibt, um erste Unberechenbarkeiten berechenbarer zu machen und fahren dort fort, wo der Austausch von Informationen zu einer Irritation führt. Eine „Irritation“ bezeichnet hier eine Information, die den anderen Menschen irritiert, da jetzt zur Antwort ein Nachdenken erforderlich ist – das kann der Beginn einer konstruktiven Kommunikation werden. Auch hier verläuft der Vorgang ähnlich, wie oben beschrieben:

  1. Auch der „Irritierte“ wird sich jetzt den Anderen als „Alter Ego“ in seinem Bewusstsein konstruieren (wird sich vielleicht denken: “Was will der Andere mir damit sagen“ oder ähnlich) und wird mit dem „Ego“ und diesem „Alter Ego“ eine evtl. kurze Diskussion führen, und erst DANN wird er dem/der Anderen antworten.
  2. Diese Antwort ist ebenfalls eine Information, besser ausgedrückt: Es ist das Ergebnis der kurzen Diskussion von „Ego“ und „Alter Ego“, das jetzt „erzählt“ wurde.
  3. Auch dieses „erzählbare Ergebnis“ ist im Idealfall nicht nur eine Information, sondern auch eine Irritation und wird
  4. bei dem Anderen den gleichartigen Denkvorgang auslösen – eine Diskussion zwischen „Ego“ und „Alter Ego“, die dann wiederum zu einem erzählbaren Ergebnis führt, das dann auch erzählt werden kann.
  5. Aus diesem Abtausch von erzählbaren Ergebnissen dieser  „Kommunikation“ (die also tatsächlich immer nur im Bewusstsein des Einzelnen stattfindet, der/die hierzu ein „Alter Ego“ konstruiert) ergeben sich nacheinander abfolgende gegenseitige Informationen, die immer besser dabei helfen, den/die Andere/n zu verstehen, „berechenbarer zu machen“, und dann im Idealfall zu einer Verständigung führen, die beide Partner gegenseitig auf eine höhere Bewusstseinsebene hebt (oder umgekehrt – auch denkbar – auf eine negativere Ebene, oft bei Co-Abhängigen zu beobachten)

Jetzt wird hoffentlich deutlich, dass „Duale Narration“ wesentlich präziser benennt, was Luhmann mit dem Begriff „Doppelte Kontingenz“ beschreibt. Der Austausch, das Erzählen von „erzählbaren Ergebnissen“ ist der eigentliche Vorgang dessen, was konventionell als „Kommunikation“ beschrieben wird.

Noch deutlicher wird der Vorschlag, die neue Benennung einzuführen vielleicht, wenn Luhmanns weiterführende Dekomponierung der Kommunikation auf Bewusstseinsebene betrachtet wird: Gemäß Luhmann erfolgt Kommunikation in einem emergenten Vorgang bzw. einer emergenten Phase. Das heißt, der Vorgang der Kommunikation beginnt mit einem stabilen Bewusstseinszustand, der durch eine Irritation (irritierende Information eines anderen Menschen) angeregt wird. Durch das, was als „Nachdenken“ bezeichnet wird, tatsächlich aber immer eine Diskussion des eigenen „Ego“ mit der fiktiven Konstruktion des Anderen im Bewusstsein in Form eines „Alter Ego“ ist, wird eine emergente (also nicht vorhersehbare und nicht nachvollziehbare) Phase angeregt, an deren Ende dann ein neuartiger Bewusstseinszustand steht. Danach ist dieser neue Bewusstseinszustand dem anderen als Information mitteilbar.

In Wirklichkeit ist es noch etwas komplizierter: Der neue Bewusstseinszustand ist erst dann als Information weiterreichbar, ja, sogar erst dann vorhanden, wenn er „erzählbar“ ist, er muss in eine erzählbare Version gefasst sein, die erst dem „Alter Ego“ mitgeteilt werden kann und wird, und danach auch der/m wirklichen Partner/in. Jede Information ist also ein erzählbares Ergebnis nach einer emergenten Phase des Bewusstseins, es wird das „erzählbare Ergebnis“ weitererzählt – das umschreibt der Begriff „Narration“ am Deutlichsten.

Wobei hinzuzufügen ist, dass dieses „erzählbare Ergebnis“ sehr wohl auch nonverbal sein kann – ein Gesichtsausdruck oder Ähnliches. Zwar ist nicht jede nonverbale Information ein erzählbares Ergebnis, aber umgekehrt kann ein erzählbares Ergebnis auch nonverbal mitgeteilt werden.

Jetzt wird hoffentlich noch deutlicher, dass Luhmanns Verwendung des Begriffes „Doppelte Kontingenz“ eigentlich sehr viel besser mit dem Begriff „Duale Narration“ benannt werden kann.