Doppelte Kontingenz ist nur ein überaus sperriges Wort, aber eigentlich ein ganz alltäglich vorkommender Zustand oder Vorgang. Sie tritt immer dann auf, wenn sich zwei Menschen begegnen – und auch dann, wenn man sich gut kennt, also praktisch jeden Tag und mehrmals.
Doppelte Kontingenz – das heißt also nichts weiter, als dass Menschen in jeder Begegnung oder „Kommunikation“ einander immer „kontingent“ sind, also fremd, unberechenbar, aber gleichzeitig eventuell auch bereit, Anderen zuzuhören. Und immer dann, wenn zwei Menschen „in Kommunikation treten“, darf dieser Zustand oder Vorgang „Doppelte Kontingenz“ genannt werden, denn im Grunde sind sich alle Menschen immer unbekannt oder, wie es Luhmann sagt: Zwei „blackboxes“, also völlig unbekannte und unberechenbare schwarze Kisten, zwischen denen also eigentlich nichts passieren dürfte – aber trotzdem geschieht etwas. Und genau DAS soll erklärt werden.
Das Wort „doppelt“ ist hierbei sehr wichtig! Es können immer nur jeweils ZWEI Menschen miteinander das haben oder machen, was wir „Kommunikation“ nennen. Das wird oft vergessen, wenn mehrere Menschen „kommunizieren“, zum Beispiel auf einer Konferenz – auch in einer Gruppe können sich immer nur jeweils zwei Menschen aufeinander einstellen. Wird das nicht beachtet, entsteht „Gefühlsverschmelzung“ oder „Konfluenz“, die dann (negativ) zu „mobbing“ oder positiv zu „brainstorming“ führen kann, aber das ist ein anderes Thema.
Was passiert also, wenn sich zwei Menschen begegnen? Der amerikanische Soziologe Parsons analysiert, dass dann Werte, Normen und Gesetze dieses Zusammentreffen bestimmen. Das ist sicher sehr richtig – am deutlichsten ist das in vielen alten Kulturen zu sehen. Beispiel: In Gambia (Westafrika) gibt es viele Stammessprachen und jede beinhaltet ein umfangreiches Begrüßungsritual, das immer wieder wiederholt wird: Es fängt an mit „Wie geht es Dir“, Antwort (immer!) „Mir geht es gut“, die weiteren Fragen (nach der Namensfrage bei Unbekannten) sind dann nach der Familie usw., dann kommt das Wetter, und ab da darf abgewichen werden.
In Europa wird auf dieses umständliche Ritual verzichtet, aber trotzdem schätzt Jeder nonverbal innerhalb weniger Millisekunden den/die Andere/n ein und die nächsten Wortwechsel sind gleichzeitig auch das Kennen lernen des Anderen ganzheitlich. Oft mit überraschend richtigem Ergebnis – was viele Studien ja bestätigen. Ob die altafrikanische Art oder die modernere zu richtigeren Resultaten führt ist unwichtig, wichtig ist: Parsons hat durchaus Recht, wenn es um den Beginn einer Begegnung geht. Wenn Parsons jedoch daraufhin zu der Ansicht kommt, das Werte und Normen ausgebaut werden müssen, um eine Gesellschaft zu stabilisieren, dann mag das immer noch richtig sein, aber es bremst den Fortschritt enorm, da ja in jeder Kommunikation bisher gültige Regeln wichtig bleiben und eigentlich nicht veränderbar sind (höchstens „demokratisch“, aber das dauert lange).
Interessant wird es ja, wenn etwas „Irritierendes“ erscheint, also eine Irritation geschieht oder ausgesprochen wird, die nicht in gültige Werte passt – wird dann eher gebremst und auf gültige Werte verwiesen, oder wird diese Irritation zu einer Veränderung führen? Der Soziologe Niklas Luhmann kam Ende des 20 Jhdts. zu einer völlig anderen Ansicht als Parsons. Er sah, daß gerade NICHT MEHR allgemein gültige Werte und Normen das Miteinander in modernen Gesellschaften bestimmen, sondern völlig neue Werte überraschend schnell Veränderungen brachten (Ende 60er und Anfang der 70er Jahre des 20.Jhdts).
Jetzt ist sehr interessant, wie Luhmann diese völlig andere Kommunikation beschreibt, aber es ist auch sehr schwierig. Das liegt aber nur daran, dass das, was Luhmann „Kommunikation“ nennt, in unglaublich kurzer Zeit passiert – innerhalb weniger Millisekunden! Der Vorgang bei jeder Kommunikation muss also erst ein Mal zeitlich auseinander gezogen werden, um zu begreifen, was da in welcher Reihenfolge vor sich geht – in „Zeitlupe“ beschrieben sozusagen.
Da das nun ein Mal sehr schwer ist, will ich das an einem Beispiel erklären, und zwar an Hand der „Geschichte mit dem Hammer“ von Watzlawik (aus dem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ – sehr empfehlenswert sowieso, aber diese Geschichte ist leicht im Internet komplett zu finden).
In dieser Geschichte will also der Eine dem Nachbarn den Hammer zurückbringen und stellt sich vor(wie es Jede/r unbedingt auch tut, wenn auch nicht so deutlich), was der Nachbar sagen würde. Die hier sehr ausführliche „Kommunikation“ läuft also folgendermaßen: Der Eine stellt sich im Kopf den Nachbarn vor und redet mit ihm (nicht im Selbstgespräch! Den fiktiven Nachbarn im Kopf gibt es ja tatsächlich!). Diesen fiktiven Gesprächspartner nennt Luhmann „Das Alter Ego“, es ist zwar prinzipiell in der Realität vorhanden, aber natürlich nur begrenzt tatsächlich dem Nachbarn (oder anderen Menschen) ähnlich, denn jeder Mensch ist ja uns niemals wirklich bekannt, bleibt also immer kontingent.
(„Alter Ego“ hat ja auch eine andere Bedeutung, nämlich eine frei erfundene andere Identität, aber genau das ist hier nicht der Fall – das „Alter Ego“ in der Kommunikation gibt es prinzipiell wirklich).
In der Hammergeschichte „kommuniziert“ also die Hauptperson mit den Alter Ego (fiktiver Nachbar) und kommt dann zu einem Ergebnis, das er dem Nachbarn erzählt. Tatsächlich verläuft jede „Kommunikation“ immer auf diese Art, auch wenn das normalerweise so blitzschnell geht, dass wir es gar nicht mehr erkennen:
Kommunikation ist IMMER das Ergebnis einer kurzen oder langen Diskussion mit einem Alter Ego, also dem fiktiven anderen Menschen, mit dem man in „Doppelter Kontingenz“ ist. Nur das Ergebnis dieser Diskussion wird dann dem richtigen „Alter Ego“ mitgeteilt, und zwar ausdrücklich immer als „erzählbares Ergebnis“ oder auch Information (umgekehrt gesehen: wäre es nicht erzählbar, könnte es auch nicht mitgeteilt werden).
„Kommunikation“ darf dieser Vorgang deshalb weiterhin genannt werden, weil immer noch das passiert, was als das Ziel jeder „Kommunikation“ bezeichnet wird, nämlich das Erreichen einer gemeinsamen Übereinstimmung, möglichst freundschaftlich und mit neuen Erkenntnissen. Das ist zwar leider oft nicht der Fall, aber trotzdem sind Beide hinterher etwas anders, haben einen qanderen Bewusstseinszustand.
„Kommunikation“ geschieht also immer zunächst im Kopf (im Bewusstsein oder auch im Unterbewusstsein) , erst dann wird das Ergebnis als Information erzählt oder manchmal auch nonverbal mitgeteilt (ein Gesichtsausdruck zum Beispiel reicht). Um das Beispiel der „Hammergeschichte“ abzuschließen: Hier ist das erzählbare Ergebnis leider sehr unglücklich, weil die Hauptperson zu lange mit dem „Alter Ego“ diskutiert hat – der „Hammer“ wird dem Nachbarn hingeworfen. Wichtig ist also als Resultat: Informationen sollten recht bald der wirklichen Person mitgeteilt werden, andernfalls gibt es unglückliche Missverständnisse.
Dieser Vorgang der Kommunikation ist auch sehr gut bei einem Schachspiel zu beobachten: Auch da denkt sich Jede/r den Gegner als Alter Ego und überlegt, was er/sie an dessen Stelle tun würde. Das passiert hier ja im Prinzip völlig nonverbal – „Doppelte Kontingenz“ und folgende Kommunikation ist also auch nonverbal möglich. Allerdings ist beim Schachspiel ja eher die Parsonssche Definition von Kommunikation sichtbar – die Schachregeln dürfen ja weder diskutiert noch überschritten werden.
Luhmann hat da eine sehr viel optimistischere Ansicht (und seit einiger Zeit sichtbar auch sehr menschenfreundlichere, wie man an den doch sehr lebenswerten westlichen Gesellschaften sieht, besonders, wenn man zum Vergleich traditionsgeprägte (z.B. islamisch geprägte) Gesellschaften sieht. Das ist natürlich relativ und subjektiv – Viele sehnen sich ja nach Traditionen zurück). Luhmann nennt übrigens das Resultat seiner von ihm analysierten „Doppelten Kontingenz“ (der wohlgemerkt in unserer Gesellschaft schon lange sichtbar ist!) mit dem Namen „Emergente Ordnung“, aber das ist ein anderes Kapitel auf dieser Tafel.
Um den Unterschied zwischen der These von Parsons und der von Luhmann zu verdeutlichen, würde ich einen anderen Namen vorschlagen, ich würde Luhmanns These lieber „Duale Narration“ nennen – wichtig bei jedem konstruktiven Begegnung ist ja, dass sich zwei Menschen erzählbare Ergebnisse mitteilen (und nur dann, wenn sie erzählbar geworden sind, sind sie auch mitteilbar, verbal oder nonverbal).
Die Voraussetzungen für konstruktive „Duale Narration“:
Dies ist ausdrücklich eine Privatmeinung – besonders Soziologen haben eine heftige Ablehnung von Emotionalität und Empathie. Meiner Ansicht nach ist Voraussetzung für „Duale Narration“ oder dualnarrative“ Begegnungen
- eine gut ausgeprägte Individualität und
- Empathie für den Anderen
Empathie sehe ich (anders als Viele) NICHT als Fähigkeit „in den Anderen emotional einzudringen“, sondern ausdrücklich anders: Empathie ist die Fähigkeit, andere Personen ganzheitlich und ausdrücklich von Außen zu erkennen, also dessen rationale und emotionalen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu erfassen. Erst dann ist ein Mensch dazu fähig, ein „Alter Ego“ im Bewusstsein oder Unterbewusstsein so gut zu konstruieren, dass ein gutes oder konstruktives Ergebnis dabei herauskommt.
Eine dazu fähige Individualität zeichnet sich natürlich dadurch aus, dass die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse möglichst gut bekannt sind, aber auch durch das, was mit „persönliche Grenze“ bezeichnet wird. Die eigenen Grenzen einer gut ausgeprägten Individualität dürfen
- nicht zu niedrig sein, da dann die Gefahr besteht, dass Andere grenzverletzend eindringen,
- auch nicht zu hoch sein, da dann die Anderen nicht mehr erkannt werden sind und es dann Anderen erschwert wird, in der Kommunikation ein wirklichkeitsähnliches „Alter Ego“ zu konstruieren. Zu hohe Grenzen verhindern ein ganzheitliches Bild.
Wie ein Mensch dazu befähigt wird, eine stabile und sozial verträgliche Individualität aufzubauen, ist noch viel zu wenig erforscht. Meiner Ansicht nach entwickeln sich Individualität und Empathie gleichzeitig, und zwar ganz von selbst, wenn diese beiden Fähigkeiten nicht sofort abgebremst werden – was leider immer noch zu oft geschieht und in traditionellen Gesellschaften sogar die Regel ist.
In traditionellen Gesellschaften ist nicht Individualität möglich oder tolerierbar, sondern ausdrücklich „IDENTITÄT“. Identität ist (im Gegensatz zur Individualität) dadurch gekennzeichnet, das jeder Mensch zwar
- physisch einzigartig ist, jedoch
- psychisch nur in Verbindung zu und mit einer Gruppe (Familie, Clan, Stamm oder Staat) denkbar ist oder sich selbst nur „identifizieren“ kann, wenn er/sie sich als Teil einer Gruppe sieht.
Diese Eigenschaften von Identität sind im Grunde auch Voraussetzung für jeden Faschismus gewesen. Leider ist der Begriff „Individualität“ noch sehr wenig wirklich bekannt oder erforscht, wie zur Zeit in Wikipedia gut zu erkennen ist: Das Wort Identität ist sauber und ordentlich gegliedert erklärt, beim Wort Individualität ist eher „Stochern im Nebel“ heraus zu lesen. Aber da besonders die heutige (etwas gebildetere) Jugend sehr viel mit dem Wort “Individualität” verbindet, wird sich das vielleicht bald ändern – noch bestimmen ja Wissenschaftler die theoretischen Grundlagen, die lange vor der Entdeckung der Vorzüge von Individualität (Kreativität ff) aufgewachsen sind, für die ist immer noch Identität Teil und Ziel ihrer Sozialisation gewesen (vor 1970 war tatsächlich Individualität eher verpönt).