Grenzenlos erziehen. Grenzen ziehen, Grenzen setzen

Hinweis: dies ist kein Widerspruch zu anderen Theorien, insbesondere nicht zur „Bindungstheorie“, sondern nur als Ergänzung zu verstehen.

Wer (wie ich) die große Zeit des Beginns der allgemeinen Akzeptanz der Individualität besonders im Umgang mit Kindern um 1970 und später „erfahren“ hat, wird sich erinnern, wie viele Wertvorstellungen in dieser kurzen Zeit aufgebaut und wieder umgekippt sind.

Speziell Kinder: Grob unterschieden war es um 1970  die Zeit der „antiautoritären Kindererziehung“ (ein verbales Paradox, ich weiß!) , die dann (um 1980) allmählich von dem Begriff „Grenzen setzen bei Kindern“ abgelöst wurde. Mit gutem Grund – die „antiautoritären“ Kinder waren eine Belastung sowohl für ihre Umwelt, als auch für die Kinder selbst.

Soweit ich es überblicken kann, ist aber seitdem viel diskutiert und vorgeschlagen. aber eigentlich kein neuer Begriff entstanden, als eben dieser furchtbare Begriff „Grenzen setzen“. Der ist jedoch ebenso furchtbar wie falsch.

Warum furchtbar? Diese Antwort ist einfach: Es ist ein autoritär geprägter Begriff – als ob Kinder im Prinzip und originär nicht weiter seien, als ungebändigte Egoisten, die „abgegrenzt“ werden müssen! Erinnerungen an vorfaschistische Zeiten werden schnell wach – es ist ein im Grunde faschistoider Begriff (wie auch der Begriff „Erziehung“).

Warum falsch? Diese Antwort ist schwieriger, weil trotz Verwendung dieses furchtbaren Wortes eigentlich sehr Viele sich durchaus anders und richtig verhalten. Einerseits zeigt die doch erstaunlich hohe Zahl an selbstbewussten Jetzt-Erwachsenen, die um 1970 und später und auch nach 1980 „erzogen“ wurden, dass weder „kleine Arschlöcher“ (Name eines beliebten Comics) noch faschistoide geprägte Mitmenschen dabei entstanden sind. Andererseits ist der Begriff „Individualität“ immer noch sehr vage definiert – immer noch wird der riesige Unterschied zu dem Begriffspaar „Identität/Alterität“ nicht eindeutig erkannt – leider besonders in der Pädagogik.

Wenn ich jetzt die These aufstelle, dass die Akzeptanz von „Individualität“ der Schlüssel ist, dass selbst eine autoritär klingende Benennung von Erziehungsmethoden (sogar verbunden mit teils grob autoritärem Verhalten) zu erstaunlich guten Ergebnissen führt,

bewege ich mich also in eine „Grauzone“ der Definition des Begriffes „Individualität“. Ich müsste eigentlich zuerst meine Definition definieren – das  ist eine den Rahmen dieses Essays sprengende Anforderung. Um wenigstens ungefähr meine Definition zu benennen, verkürze ich stark auf den wichtigsten Teil der Individualisierung:

Die Grenze

Eine „Grenze“ (dieses Wort verwende ich eigentlich ungern) ist für ein Individuum wichtig, um

  • eigene Fähigkeiten und Qualitäten zu erkennen und zu entwickeln
  • andere Individuen zu erkennen und zu respektieren

Eine „Grenze“ hat also gleichzeitig die Funktion, eigene Qualität zu erkennen und Grenzüberschreitungen Anderer abzuwehren, andererseits aber auch die Anderen mit ihren Grenzen wahrzunehmen..

Um im Bild zu bleiben: Eine zu niedrige Grenzabsteckung birgt die immanente Gefahr von Verletzungen Grenzüberschreitung durch Andere) oder Opportunismus (Mitläuferverhalten), eine zu hohe Grenze führt zu Isolation oder autoritärem Verhalten mangels Empathiefähigkeit.

Wie entwickelt ein Kind seine Individualität?

Die klassische Kinderbetrachtung geht davon aus, dass Kinder ihre Grenzen selbst aufbauen („natürlicher Egoismus“) und diese Grenzen eingeschränkt oder gar aufgebrochen werden müssen, in früheren Zeiten auch mit Gewalt – der Vorgang heißt dann richtig: „Grenzen setzen“.

Es ist allerdings auch umgekehrt denkbar: Kinder erleben und sondieren die „Begrenztheit“ der Bezugspersonen (ganz früh: die Mutter) und erst bei der Berührung der Grenzen der ersten Bezugspersonen entwickeln sie eine eigene Grenze. Das Grundverhalten der Kinder ist demgemäß zunächst empathisch-altruistisch und dieser Altruismus reduziert sich dann, und zwar bereits in der Begegnung mit dem Egoismus der ersten Bezugspersonen.

Welche Betrachtung die Richtige ist, ist vorläufig nicht lösbar, weil die Entstehung individueller Eigenschaften ja sehr früh in non-verbalen Begegnungen beginnt. Der Unterschied ist also nur in Beobachtungen ermittelbar, und da wird oft nur das beobachtet, was erwartet wird – die Beobachter erwarten Egoismus und sehen folgerichtig nur den – durchaus ja bereits ganz früh entstehenden – egoistischen Anteil im Verhalten der Kinder.

Die im  Text “Individualität und Duale Narration”  erzählte Begegnung des „Strampelkindes“ mit der Mutter ist zwar auch ganz sicher nicht die erste Begegnung, aber hier ist zumindest erahnbar, dass zu diesem Zeitpunkt das Individuum „Kind“ auf eine sehr starke Grenze der erwachsenen Mutter trifft. Wird dieses Beispiel wie in diesem Text interpretiert, ist zumindest hier erkennbar, dass das Kind seine Grenze wachsen lässt, indem es die Grenzen der Mutter erkennt und respektieren lernt.

Alles Weitere ist dann ein vielfältiger Austausch von Grenzerkennung anderer und Ausbildung eigener Grenzen, dabei trifft jedes Kind schon sehr früh auch auf schwächere Grenzen Anderer – zum Beispiel gleichaltriger „Krabbel“- Kinder. Dabei ist unvermeidbar, dass dieses Kind auch Grenzen Anderer (Kleinkinder) versehentlich überschreitet  – auch das gehört zum Lernprozess hinzu.

Wichtig ist: Grenzen erleben ohne Angst!

Schon sehr früh ist also jedes Kind bestrebt, Grenzen Anderer zu erkennen und selbst Grenzen zu entdecken, selbst erfahrene wie auch selbst praktizierte Grenzüberschreitungen im “Versuch+Irrtum-Verfahren” sind natürlich unvermeidbar und gehören auch zum Lernprozess. Wichtig ist nur, zu begreifen, dass jedes Kind später ein selbstständiges Individuum werden soll, ein Individuum, das  gleichzeitig als Ganzes erkennbar für Andere sein soll und Grenzen Anderer erkennen kann.

Soll das Ziel ein „offenes“ Individuum sein?

Noch immer wird in der Pädagogik behauptet, dass ein Individuum sich “öffnen” muss, um Empathie zu empfangen (und umgekehrt erst dann Empathie entwickelt, wenn Andere sich öffnen). Das ist nicht nur eine sehr falsche Definition des Begriffes “Empathie”, sondern es birgt auch viele Gefahren. Ein Individuum muss nicht, kann nicht  und darf nicht „offen“ sein für andere Individuen. Ebenso wenig darf ein Individuum in andere Individuen „eindringen“!

Hier ist ein Verständnis für den (leider sehr sperrigen) Begriff der „Dualen Narration” unumgänglich, deshalb noch ein Mal eine kurze Zusammenfassung:

Jede bewusste Weiterentwicklung, jede Kommunikation entsteht nicht durch „Verschmelzen“ mit dem/der Anderen (das wäre Konfluenz), sondern durch Erfassen des/der Anderen in seiner Gesamtheit, danach durch das Importieren dieser „Gesamtheit“ in das eigene Bewusstsein, dort eine Konstruktion als „Alter Ego“, mit dem dann im Bewusstsein „kommuniziert“ wird. Erst das Ergebnis dieser „Diskussion“ wird dann als Information oder Irritation (immer jedoch als erzählbares Ergebnis) mitgeteilt.

Die Fähigkeit, die andere Person möglichst ganzheitlich zu erkennen und dann zum Gesprächspartner im eigenen Bewusstsein aufzubauen, das ist “Empathie”. „Empathie“ ist also zwar unbedingt erforderlich (im Normalfall auch immer vorhanden), jedoch nicht wie oft definiert als emotionales Eindringen in die Unverletzlichkeit des/der Anderen, sondern als Fähigkeit, den/(die Andere/n in seiner Ganzheit (emotional wie rational) zu erkennen.

„Duale Narration“ enthält ausdrücklich das Wort “dual”, also zweifach, weil dieser Vorgang wirklich nur jeweils mit EINEM anderen Individuum möglich ist.

Nochmals: Angstfreiheit!!

Jedes Eindringen in die individuelle Ganzheit wird jeden Falls zu Beginn (wahrscheinlich aber immer) als angsteinflößend zu bewerten sein. Oder umgekehrt: Jede Grenzüberschreitung besonders in emotionale Grenzen hinein  (mit oder ohne Gewalt) führt zu  überkomplexen (im Sinne von ganz schnell ausgelösten und nicht nachvollziehbaren) Denkvorgängen.

Als Folge kann dann kein “erzählbares Ergebnis” im Bewusstsein entstehen, und genau diese unabgeschlossene Denkvorgang löst Unsicherheit und dann auch Angst aus, die leicht zu einer “Grundangst” werden kann. Da die Erziehung jedes Kindes zu Beginn von wenigen Personen (Eltern, oft sogar nur die Mutter) bestimmt wird, ist in dieser Zeit Fehlverhalten lebenslang bestimmend.

Die Reihenfolge in der Entstehung von Grundängsten ist also:

  1. Das Kind kann bereits sehr früh kommunizieren und tut das auch.
  2. Die Mutter erkennt dies nicht als Kommunikation und reagiert mit Ablehnung, zwar durchaus “liebevoll und sanft”, aber sehr klar bestimmend.
  3. Die Denkvorgänge bei dem Kleinstkind bleiben ohne abschließendes Ergebnis, und sie lösen bei diesem Kleinstkind erst Unsicherheit aus.
  4. Da sich (zwangsläufig durch das immer wiederkehrende Verhalten der Mutter) dieser Vorgang mehrfach wiederholt, wird aus der Unsicherheit des Kindes die Angst davor, die Kommunikation zu beginnen und das bleibt dann immer als Grundangst bestimmend.
  5. Eine solche Perpetuation kann leicht dadurch verhindert werden, dass die Mutter bereits sehr früh auch andere Personen mit der Beschäftigung mit dem Kind zulässt.

In jedem Kontakt mit Personen und besonders im Kontakt zwischen Kleinkindern sind Grenzverletzungen natürlich  vorkommend und unumgänglich. Das ist nicht ein Problem, wenn wenn prinzipiell erkannt wird, dass diese angstauslösend sind, und wenn diese Angst bei dem betroffenen Kind dann bewusst erkannt und abgebaut wird. Grundängste entstehen also nicht durch eventuelles Fehlverhalten, sondern durch wiederholtes Fehlverhalten.

Die wichtigste und eigentliche Aufgabe aller Bezugspersonen jedes Kindes ist also: Verantwortung zu übernehmen dafür, dass ein Kind seine eigenen Grenzen findet, die Grenzen Anderer erkennt und respektiert, dann lernt, dass es auch angsteinflößende Grenzüberschreitungen gibt, in diesen Überschreitungen jedoch lernt, seine Angst zu relativieren.

Erst dann wird ein Kind auch lernen, seine und andere Grenzen zu respektieren und gleichzeitig lernen, die eigenen Grenzen sichtbar für Andere aufzubauen.

Zurück zum Thema „Grenzen setzen“

Eine „Erziehung“ (besser wäre „Begleitung“) eines Kindes, die „Grenzen setzt“, ist in diesem Fall fördernd für die Entwicklung vom Kleinkind zum Individuum, wenn sie nicht als „Grenzsetzung“ ausgetragen wird, sondern als „Grenzerkennung“, die Bezugspersonen also nicht das Kind „in Grenzen zurückdrängen“ wollen, sondern dem Kind helfen, die Grenzen Anderer (speziell der ersten Bezugspersonen) möglichst umfassend (emotional UND rational) zu erkennen.

Empathiefähigkeit  kann und darf bei jedem Kleinkind vorausgesetzt werden, aber besonders Kleinkinder sind (noch) nicht in der Lage, die Gesamtheit Anderer zu erkennen. Jede Bezugsperson (nicht nur die Mutter) sollte als Voraussetzung wissen, dass kein Kind „böswillig“ agiert und Anderer Grenzen nicht erkennt, sondern allenfalls (noch) unwissend.

Verhängnisvolle Kontinuität

Diese Unwissenheit kann jedoch nicht überwunden werden, wenn die Bezugspersonen möglichst ausschließlich liebevolle Kontinuität zeigen und dann doch sich mit Gewalt durchsetzen wollen oder müssen (und sei es zum Wohle des Kindes). Im Gegenteil ist es hilfreich, wenn das Kind Bezugspersonen schon sehr früh als auch mal „böses“ Individuum erkennen können, diese „Bösartigkeit“ jedoch möglichst auch spielerisch bewältigen lernen. Den „Auftritt“ als wirklich angsteinflößendes Individuum sollten sich Bezugspersonen wirklich für den allerletzten Notfall aufbewahren.

Eine „Erziehung“ von Kindern, die Individualität der Kinder im obigen Sinne akzeptiert und fördert, kann also eigentlich nur wenig Schaden anrichten. Das Wort „Grenzen setzen“ ist hierfür u.U. einfach nur falsch.

Erstaunlicherweise ist das Handeln der überwiegenden Mehrheit von „Erwachsenen“ der heutigen europäischen Gesellschaften in Bezug auf Kinder durchaus richtig, obwohl das Wort „Individualität“ überhaupt noch nicht klar definierbar ist. Ebenso „aus Versehen“ hat dadurch die Empathiefähigkeit der „Jetzterwachsenen“ in unserer Gesellschaft ein erstaunlich hohes Niveau bekommen. Ebenso geschah es darüber hinaus mit der „Doppelte Kontingenz“ bzw. mit dem „doppeltkontingente Denken“, wie auch mit der Bereitschaft zu einer im Grunde erstaunlich stabilen „Emergenten Ordnung“, statt der immer noch anti-individualistischen deutschen „Demokratie“ der Zeit vor 1970.

Und trotzdem sind Kinder auch nach 1970 „groß“ geworden, zeigen teilweise erstaunlich hohe Individualität (und damit automatisch Kreativität, Empathie ff). Es zeigt, dass Kinder erstaunlich hoch belastbar sind, aber die immer noch erschreckend hohe Zahl derer, die

  • psychische Probleme einerseits und
  • völlige Unfähigkeit zu Empathie andererseits (gewaltbereite Jugendliche)

aufweisen, zeigt, dass es schön wäre, wenn  Kinder durch Unwissenheit der Älteren nicht so hohen Belastungen ausgesetzt wären in den Kreisen, wo Ältere bereits „instinktiv“ das Richtige tun, bzw. in Kreisen, wo noch sehr archaische Erziehungsmethoden vorherrschen, die leider immer noch Individualität bei Kindern unbedingt „brechen“ wollen – aus falschem Verständnis von „Kindererziehung“ oder (noch schlimmer, weil subtiler) wegen kultureller Traditionen.

Stichwort „Identität“ und Faschismus

Auch nach heute gängiger Definition (Wikipedia) ist Identität zwar einerseits die sehr wohl akzeptierte „Eigenartigkeit“ jedes Menschen, die aber gleichzeitig unbedingt als „zu einer Gruppe gehörig“ definiert wird.

Zitat aus Wikipedia zur psychischen Identität:

Die psychische Identität stellt keine wie auch immer geartete eindeutige Essenz oder ein unveränderliches Wesen dar. Im Gegenteil: Identität als psychologisches Konzept geht geradezu davon aus, dass sich ein Mensch mit etwas identifiziert, also ein äußeres Merkmal einer bestehenden Gruppenidentität als sein eigenes Wesensmerkmal annimmt. In gewisser Hinsicht erscheint dies als notwendiger Prozess zur Heranbildung einer eigenen Persönlichkeit, aber es bleibt stets ein Element der Fremdbestimmung und Zuschreibung. So hat vielleicht jemand, der gerne homosexuellen Sex praktiziert, keine Lust, sich identitär als „lesbisch“ oder „schwul“ zu bezeichnen, wird jedoch dennoch von seiner Umgebung in diese Identität gedrängt. Die psychische Identität wird einerseits durch Gruppenzugehörigkeiten und soziale Rollen bestimmt: Das Wir. Eine Identität kann jedoch nicht nur auf diesem Wir basieren. In unserer westlichen Gesellschaft besteht Identität auch in der Erfahrung der Einzigartigkeit, im Ich, in dem eine Person sich als anders erlebt.

Diese Definition ist aber gleichzeitig erschreckend ähnlich der Definition der Menschen, die zu den europäischen Faschismen (Italien, Deutschland, Sowjetunion ff) geführt hat. Damit soll nicht behauptet werden, dass „Identität“ automatisch faschistoide sein muss – im Gegenteil ist Identität jedes/r Einzelnen unbedingt erforderlich, wenn der Aufbau einer sozialen Ordnung gewünscht wird.

Aber erst ein bewusstes Selbsterkennen als Individuum (parallel zur Identität) ist der (bislang) einzige erkennbare Weg, jedes Aufkeimen eines neuen Faschismus zu verhindern, weil nur durch Aufbau von Individualität (und dann dem genannten Weg) eine Emergente Ordnung möglich ist, die dann ganz sicher die klare Verneinung von Faschismus ermöglicht.